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Die Themen Leere und Einsamkeit spielen in diesem Roman von Anfang an eine zentrale Rolle. Gleich auf der ersten Seite heißt es: „Und dieses Klingeln [des Telefons], an das er seit langem kaum noch gewöhnt war […]‟, einige Seiten später: „[Die Hitze] verstärkte seine Einsamkeit. Sie zwang ihn, in diesem Zimmer eingeschlossen zu bleiben bis Sonnenuntergang‟ und „In dieser Einsamkeit hatte er sich so leicht gefühlt wie nie zuvor […]‟.

Dazu kommen indirekte Hinweise darauf, dass der Protagonist ein sehr stilles Leben führt: „Das Telefon hatte am Nachmittag gegen vier bei Jean Daragane geklingelt, in dem Zimmer, das er „Büro“ nannte. Er war eingenickt auf dem Kanapee […]‟ Und auf das verlorene Adressbuch bezogen: „Ohne den Anruf des Unbekannten hätte er den Verlust dieses Büchleins für immer vergessen. Er versuchte sich an Namen zu erinnern, die darinstanden.‟

Zugleich wird aber deutlich gemacht, dass Daragane nicht immer so einsam gelebt hat: „Keiner von den Namen gehörte Personen, die in seinem Leben gezählt hatten – deren Adressen und Telefonnummern hatte er nicht aufschreiben müssen […]‟ – „Aber diese ganze Vergangenheit war so durchscheinend geworden mit der Zeit … ein Dunst, der sich auflöste in der Sonne.‟ – „Und bei den zwei oder drei fehlenden Nummern, jenen, die für ihn gezählt hatten und die er auswendig wusste, da würde niemand mehr abheben.‟

So wird deutlich, dass Daragane nicht von Natur aus ein Menschenfeind ist, sondern dass ihm etwas verloren gegangen ist. Früher einmal hat er offenbar ein ereignisreiches Leben geführt – das erkennt man auch daran, dass er bei Ottolonis Anruf augenblicklich Gefahr wittert: „Eine weiche und bedrohliche Stimme. Das war sein erster Eindruck.‟ Eine Seite später ist gar von „Erpressertonfall‟ die Rede.

Und noch etwas kommt hinzu: Der Protagonist bewegt sich durch leere Räume. In dem Café, in dem er sich mit dem Anrufer trifft, hält sich außer ihnen niemand auf, nicht einmal die Bedienung lässt sich blicken. Der Boulevard Haussmann, den er anschließend betritt, ist ebenfalls menschenleer.

Interessanterweise werden hier ständig Motive benutzt, die man spontan mit Geselligkeit, mit Kontakt, mit Gespräch assoziiert: Kneipe, Boulevard, Adressbuch, Telefon. Während der Roman uns also ein einsames, stilles Leben vorführt, erinnert er uns zugleich daran, dass es durchaus Nähe und Lebendigkeit auf der Welt gibt, dass es auch für den Protagonisten einmal Menschen gab, an denen ihm etwas lag. Und ab und zu schimmert die Sehnsucht nach einer Begegnung durch:

„Oft, an manchen Nachmittagen voller Einsamkeit, hatte er geträumt, das Telefon würde klingeln und eine sanfte Stimme würde ihm ein Treffen vorschlagen.‟

Vor diesem Hintergrund der Einsamkeit und Leere wird Daragane nun in einen Kampf ums Sich-Erinnern verwickelt. Die Rollen sind dabei ungewöhnlich verteilt, denn Daragane will sich nicht gar erinnern. Er wehrt sich gegen die Einflüsse, die ihn dazu zwingen möchten. Er hat sich von der Vergangenheit gelöst (jedenfalls scheint es so auf den ersten Blick), er will nichts mehr von ihr wissen. Als er das alte Adressbuch zurückerhält, denkt er spontan daran, es zu verbrennen.

Die Forderung, sich zu erinnern, wird von Gilles Ottoloni an ihn herangetragen, dem Fremden, der das Buch gefunden hat. Ottoloni fragt hartnäckig nach einem bestimmten Namen in diesem Adressbuch, und seine Freundin Chantal Grippay drängt Daragane, Ottoloni zu helfen. Sie lädt Daragane in ihre Wohnung ein, kopiert ihm Material zu einem alten Kriminalfall, besucht ihn spät nachts in seiner Wohnung.

Daragane dagegen sperrt sich. Der Name im Adressbuch sagt ihm nichts, die getippten Unterlagen findet er unlesbar, eine Buchstabenwüste, völlig wirr. Er lässt die Angriffe ins Leere laufen – buchstäblich: Sie verpuffen in der Wüste des Nicht-Erinnerns, in der er zu existieren scheint. Tatsächlich ist die Leere also mehr als nur der Hintergrund für die Handlung: Sie ist der Schutzschild, hinter dem sich Daragane verbirgt. Seine Gegner bekommen ihn nicht fassen, sie tasten hilflos im Nichts umher.

Auch wir Leser:innen wissen nie genau, woran wir uns halten sollen. Erinnert sich Daragane wirklich nicht, oder tut er nur so? Warum glaubt er augenblicklich, Ottoloni wolle ihn erpressen, wenn er über die Kriminalgeschichte nichts weiß? Der Roman spricht nicht nur von Leere, er erzeugt auch einen erzählerischen Raum, in dem alles vage und diffus bleibt. Der Protagonist entzieht sich, er lässt sich nicht fassen. Das muss man mögen – wer Spurensuchen nur schätzt, wenn sie zu greifbaren Ergebnissen führen, hat hier einiges auszuhalten. Es ist kein Zufall, dass schon im Titel von Verirren die Rede ist.

Doch während Ottoloni und Grippay sich vergeblich abmühen, Daragane eine Auskunft zu entlocken, findet auf einer zweiten Ebene ein weiterer Angriff auf Daraganes Gedächtnis statt. Die Lage des Bistros, in dem sich Ottoloni mit ihm trifft, der Vorname Chantal, Ottolonis Adresse, das Buch über Rennbahnen, das zufällig auf Grippays Nachttisch liegt – überall liegen Bezüge zu Daraganes Vergangenheit versteckt. Hier hat sein Vater gearbeitet, dort hat er selbst einmal gewohnt …

Spätestens hier sollte man aufhören zu fragen, wie realistisch das alles ist. Wir befinden uns nicht in einem Kriminalroman, sondern in einem Text, der Vergessen und Erinnern greifbar zu machen versucht. Die vielen zufälligen Bezüge zu Daraganes früherem Leben sind Hinweise, dass sich etwas in ihm zu erinnern beginnt, sich erinnern will. Daragane spielt zwar immer wieder mit dem Gedanken, diesen Prozess zu beenden: das Adressbuch verbrennen, beim Telefonieren einfach auflegen, sich beim Treffen mit Ottoloni aus dem Staub machen. „Doch er besann sich.“ Er lässt das Sich-Erinnern geschehen.

Zunächst erinnert sich Daragane nur an den Mann, dessen Namen Ottoloni im Adressbuch gefunden hat, doch das erweist sich als der lose Faden, von dem aus sich das gesamte Gewebe aufribbeln lässt. In Ottolonis Material finden sich immer mehr Dinge, die Daragane vertraut sind. Vor allem ein Name: Annie Astrand. „Eine ferne Stimme, sehr spät im Radio eingefangen, und du sagst dir, sie richtet sich an dich und will dir eine Botschaft übermitteln.“

Damit ändert sich die Dynamik der Geschichte. Daragane beginnt, aktiv nach Spuren seiner Vergangenheit zu suchen, und der Roman springt immer öfter in die Vergangenheit zurück. Interessanterweise verschwinden zugleich Ottoloni und Grippay aus dem Roman: Nachdem sie Daragane anfangs förmlich belagert haben, hört er nun nichts mehr von ihnen. Als bräuchte sein Gedächntnis den Anstoß von außen nicht mehr.

Doch auch in dieser zweiten Hälfte bleibt sich der Roman treu: Gesicherte Erkenntnisse werden nicht geliefert. Tatsächlich erfährt man nur recht wenig – trotzdem spürt man das Gewicht dieser Erinnerungen, gerade weil sie für sich allein in der Leere stehen.

Patrick Modiano: Damit du dich im Viertel nicht verirrst
Übersetzt von Elisabeth Edl
Original: Pour que tu ne te perdes pas dans le quartier
dtv
ISBN 9783423145404